Vor 120 Jahren
Aus Anlass des 120-Jahr-Jubiläums von Rapid werfen wir einen Blick auf Wien um 1899 und die Situation der damaligen Spielstätten und versuchen danach so etwas wie das Lebensgefühl in dieser Stadt nachzuempfinden.
Die Stadt Wien erlebte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein atemberaubendes Wachstum. Jemand im Alter des damaligen Bürgermeisters Karl Lueger (*1844, †1910) kannte als Kind die Stadt noch mit der Stadtmauer wie in der Zeit der Türkenbelagerung mit etwa 400.000 Einwohnern. Im Laufe seines Lebens wurde Wien sechs Mal erweitert und wuchs bis zu seinem Tod auf das Fünffache.
- 1855 als er 11 Jahre alt war, wurden die Stadtmauern geschleift, und die inneren Bezirke wurden der Stadt angeschlossen, Wien hatte 8 Bezirke
- 1861 wurden die Bezirke 4 und 5 voneinander getrennt, Wien hatte 9 Bezirke.
- 1874 wurde die „Siedlung vor der Favorita-Linie“ aus der der Verwaltung des 4. Bezirks herausgelöst (man sprach vom „10. Hieb“, weil dessen Grenzen geradlinig wie aus einer Torte ausgeschnitten entstanden sind); Wien hatte 10 Bezirke.
- 1892 kamen alle Vorstädte von Meidling bis Döbling woei Simmering zur Stadt, Wien hatte 19 Bezirke.
- 1900 wurden der 2. und der 20. Bezirk voneinander getrennt, Wien hatte 20 Bezirke.
- 1904 wurden die heutigen Bezirke Donaustadt und Floridsdorf als 21. Bezirk eingemeindet.
Spinåtwåchter
Mit 1894 ist die hier dargestellte Karte datiert und bis 1894 bestand der Linienwall, eine Befestigung im Verlauf des heutigen Gürtels. Errichtet wurde der Linienwall nach 1700 als Schutz gegen plündernde Kuruzen, diente aber danach als Steuergrenze, die „Linie“. Jeder, der Waren nach Wien brachte, musste diese an der Linie verzollen. Die grün gekleideten Beamten wurden geringschätzig „Spinåtwåchter“ genannt, die Abgabe war die unbeliebte „Verzehrungssteuer“. Sie hatte die Wirkung, dass das Leben außerhalb der Linie billiger war und sich daher Neuankömmlinge eher in den Vorstädten angesiedelt haben.
Spielorte um 1900
Die hier abgebildete Karte der „Wiener Tramway Gesellschaft“ ist genau aus dieser Zeit und daher sieht man entlang des Gürtels eine im Zick-Zack der früheren Befestigung gezogene Bezirksgrenze.
Die Stadtbahn gibt es noch nicht, die wird erst 1898 eröffnet werden. Auch das Technische Museum wird erst 1918 eröffnet. Man sieht den Wasserbehälter auf der freien Fläche der Hütteldorferstraße, wo sich heute der Meiselmarkt befindet.
Spielort „Schmelz“
In den Gründungsjahren von Rapid spielte man auf der Schmelz auf improvisierten Plätzen. Folgt man den Bezirksgrenzen der Karte, erkennt man, dass dieses Areal auf die Bezirke 13, 14 und 15 aufgeteilt war. Und in welchem Bezirk Rapid gespielt hat, das hing wohl ein bisschen damit zusammen, wo halt gerade Platz war.
Spielort „Selzergasse“
Ab 1903 spielte Rapid auf dem Grundstück entlang der Selzergasse, und man sieht auch schon auf dieser Karte aus 1894, dass die Wohngebiete die restlichen freien Flächen mehr und mehr einschnüren. Diese Spielstätte war im damaligen 14., heutigen 15. Bezirk.
Spielort „Hütteldorf“
Mit der Übersiedlung auf die Pfarrwiese 1912 nach Hütteldorf, spielte man bis 1938 im 13. Bezirk. Hier ein Blick auf die damalige Bebauung in Hütteldorf:
20 Jahre später hat sich dann Fußball in Hütteldorf etabliert.
Man kann die Pfarrwiese erkennen und den vergleichsweise riesigen Sportplatz des W.A.F. entlang der Bahnhofstraße.
Lebensgefühl
Was waren aber die Ursachen für diese Entwicklungen?
Im Hintergrund steht eine Agrarrevolution, die schon seit dem 18. Jahrhundert ein konstantes Bevölkerungswachstum von etwa 0,5 Prozent pro Jahr ermöglicht hat. Doch die Menschen wurden durch die Leibeigenschaft in den ländlichen Regionen gehalten. Verehelichungsverbote wirken wie eine Geburtenregelung.
Mit 1848 verabschiedete man sich vom System „Metternich“ und die Schleifung der Stadmauern von Wien symbolisiert den Aufbruch in die Gründerzeit. Der junge Abgeordnete Hans Kudlich bringt einen Gesetzesentwurf ein, der schließlich die Bauern aus der Leibeigenschaft befreit, mit der Folge, dass die verarmte Landbevölkerung sich in einem kontinuierlichen Strom in Richtung der Großstädte in Bewegung setzt. Etwa 4 Millionen gehen nach Übersee.
Diese Freiheit hatte ihre Schattenseiten, weil der damalige Staat, den man als „Nachtwächterstaat“ bezeichnet, zwar für Recht und Ordnung sorgte und vor allem den Besitz garantierte, es aber völlig verabsäumt hat, den Arbeitermassen so etwas wie eine soziale Minimalausstattung mitzugeben. Also wirkten sich marktwirtschaftliche Prinzipien sowohl auf die Arbeitssituation als auch auf die Wohnungssituation ungebremst aus.
Am Arbeitsmarkt bedeutete der ständige Zustrom neuer Arbeitskräfte, dass die Arbeiter alle Bedingungen akzeptieren mussten, weil vor den Toren jederzeit andere warteten, dieselbe Arbeit unter denselben Bedingungen zu übernehmen. Extrem waren die Verhältnisse für die Ziegelarbeiter außerhalb der Stadt, die erst durch einen solidarischen Streik 1895 gemildert wurden.
Am Wohnungsmarkt bedeutete die Gründerzeit, dass die Hausherrn von der überaus großen Nachfrage nach Wohnungen profitiert haben. Minderwertige Wohnungen wurden zu überhöhten Preisen vermietet und die Folge waren Untervermietungen und Bettgeher. Zwei Bettgeher pro Bett, versteht sich; einer am Tag und einer in der Nacht.
Wilhelm Wiesberg, schrieb das Couplet „D’Hausherrnsöhnl’n“ und einer seiner Fans soll Kronprinz Rudolf gewesen sein.
Das ist also genau die Zeit, in die Rapid hineingeboren wurde.
Wien ist anders
Die Landflucht ist ein europaweiter Prozess, und doch erzeugte er in Wien etwas Besonderes: den extremen Nationalismus.
Die folgende Europakarte zeigt den Zuzug zu den Hauptstädten. In allen Metropolen strömen die Menschen aus dem agrarischen Umland in die Städte. Dieser enorme Zuzug, der die Städte explodieren lässt, wird aber nirgendwo als besorgniserregend empfunden, außer in Wien, weil hier der Zuzug in erster Linie aus fremdsprachigen Gebieten erfolgte.
Wie sich das angefühlt haben muss, kann man jederzeit am Victor Adler Markt (oder anderen ähnlichen Hot-Spots) erleben. Der Wiener fühlt sich durch die Zuwanderer-Massen an den Rand gedrängt, dabei ist die heutige Zuwandererzahl nur ein Bruchteil dessen, was man damals erlebt hat.
Die Volkszählungen der Jahrhundertwende zeichnen Wien als eine deutschen Stadt mit einem Anteil von etwa 10% Tschechen. Aber die gefühlte Realität war die, dass manche Autoren davon sprechen, dass Wien die größte tschechische Gemeinde überhaupt war. Diese Diskrepanz liegt an der Schwierigkeit, festzustellen, wer Wiener und wer Nicht-Wiener ist. Wir erleben dasselbe ja auch heute, nur sind es halt Türken, die in diesem Konflikt als Feindbilder herhalten müssen.
Damals herrschte ein großer Anpassungsdruck. Kaum angekommen, wurde der Name eingedeutscht. Wollte man etwas erreichen, musste man als Wiener auftreten und sich um den begehrten Wiener Heimatschein bewerben. Und hatte man ihn, wurde man automatisch als Deutscher gezählt. Aber der gefühlten Realität entsprach das nicht.
Böhmische Schwalben
Noch ein Zähltrick: Sowohl die Ziegeleiarbeiter als auch das mit ihnen verbundene Baugewerbe waren saisonal. Im Herbst fuhr man zurück in die Heimatdörfer, im Frühling kehrte man wieder zurück. Aber die Volkszählungen waren aus taktischen Gründen im Dezember, was zu Folge hatte, dass man weniger Menschen erfasst hat als normalerweise hier lebten und der Anteil der Tschechen war deutlich kleiner.
So, wie im folgenden Bild sah man die Situation nach einer Volkszählung in Wien:
Obwohl die Ergebnisse der Volkszählung ganz anders lauteten, werden in diesem Bild der Tscheche und der Jude riesig im Vergleich zum Deutschen Michel dargestellt. Von einer österreichischen Identität ist hier nichts zu sehen.
Das Kaiserhaus kämpfte vergeblich gegen diese unheilvollen Strömungen an. Lueger, der die populistische Nationalistengeige virtuos beherrschte, wurde vom Kaiser vier Mal wegen dessen „Radau-Antisemitismus“ die Bestätigung als Bürgermeister verweigert, mit dem Effekt, dass er mit jeder dieser Ablehnungen populärer wurde.
Lueger nannte sich „Christlich-Sozial“, doch verband man mit diesem Begriff eher die Verbindung von Altar und Thron als eine solche mit den arbeitenden Menschen. Wie konnte er aber dann Bürgermeister werden ohne die Stimmen der Arbeiter?
Das Kurienwahlrecht machte das möglich. Die zu vergebenden Stimmen waren in vier Kurien aufgeteilt und in jeder Kurie waren nur die dort Zugehörigen wahlberechtigt. Die vier Kurien waren: Großgrundbesitz; Städte, Märkte, Industrieorte; Handels- und Gewerbekammern; Landgemeinden. 1896 kam eine fünfte Kurie dazu, die der über 24-jährigen Männer, die mehr als ein Jahr an einem Ort gearbeitet haben. Erst 1907 kommt ein allgemeines gleiches Wahlrecht für Männer und 1918 für alle.
Dieses Wahlrecht ermöglichte Lueger als Bürgermeister.
Die arbeitende Bevölkerung hatte längst jede Verbindung zur Kirche verloren und wandte sich den neuen Idealen des Sozialismus zu. Die Enzyklika des Papstes, die heute als „Christliche Soziallehre“ verkauft wird, kam viel zu spät.
Für uns, die wir 120 Jahre später leben, ergibt sich die verblüffende Parallele, dass wieder ein, sich „christlich-sozial“ nennender Bundeskanzler weit aus dem rechten Fenster lehnt, so als würde er dort den Geist Luegers einatmen wollen.
In diesem Biotop von Armut, Nationalismen, Fremdenhass und Antisemitismus wuchs ein junger Mann auf, unauffällig und alle diese Ideen zu einem krausen Weltbild verarbeitend: Adolf Hitler, atemberaubend zusammengefasst von Brigitte Hamann in „Hitlers Wien“.
Deutsch-Nationalismus
Warum es Piefkes gibt, warum am Akademikerball immer wieder deutsche und nicht österreichische Schärpen präsentiert werden hat seine Wurzeln im Ausschluss von Österreich aus dem Deutschen Bund durch die Preußen nach 1866.
Es war zwar noch keine Rede von einem unabhängigen Österreich wie wir es heute kennen, aber der Anschlussgedanke wurde damals geboren. Und noch 1923 als alles längst entschieden war, bekannten sich alle parlamentarischen Parteien dazu, einen solchen Anschluss anzustreben, auch wenn ein solcher durch den Friedensvertrag von st. Germain ausdrücklich verunmöglicht war.
Warum sie das tun konnten (also für einen Anschluss sein)? Diese Anschluss-Idee wusste damals noch nicht, wie sich die Geschichte weiter entwickeln würde. Heute hat diese Anschlussidee durch den Zweiten Weltkrieg eine weitere Facette bekommen, die es schwer macht, der Idee etwas Positives abzugewinnen, speziell in einem vereinigten Europa.
Analphabetismus
Böhmen und Mähren hatten etwa eine gleich hohe Alphabetisierungsrate wie Wien oder Niederösterreich von fast 98 %. Doch unter den Zuwanderern war der Anteil der Analphabeten deutlich höher. Aus diesem Grund kennzeichnete man die Straßenbahnen anfangs nicht mit Buchstaben und Zahlen, sondern mit Farbsignalen.
Die Linie nach Rudolfsheim und Penzing waren grün. Vielleicht war diese Farbkennzeichnung der spätere Grund für die Wahl von grün-weis als Vereinsfarbe.
Freizeit
Fußball gab es ja gerade noch nicht. Freizeit – sofern es so etwas gab – verbrachte man angesichts der beengten Wohnverhältnisse in den Gasthäusern, bei so genannten 5-Kreuzer-Tänzen.
Wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit wurde 1886 in Wien das Verbot öffentlicher Tanzveranstaltungen erlassen.
Dieses Verbot und auch die geringere Besteuerung waren ein Grund, warum Veranstaltungen außerhalb der Stadt an Beliebtheit gewannen. Eines dieser Gebiete war der „Böhmische Prater“. Er lag günstig zu den Bezirken Favoriten und Simmering, zum Arsenal mit seinen Soldaten und auch zu den Ziegeleien am Laaerberg. Das wichtigste aber, der Laaer Wald gehörte zu Oberlaa und das wieder zur Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha und lag außerhalb der Zuständigkeit der Stadt. Aus diesen Randbedingungen entwickelte sich ein gut besuchtes Freizeitzentrum, vor allem eben der Tschechen.
„die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint“
So beschrieb Victor Adler die Menschen, die am Wienerberg schufteten und unter entsetzlichen Bedingungen hausten. Seine Recherchen und Publikation in der „Gleichheit“ führten 1889 zur Gründung der SDAP in Hainfeld. Aber erst im April 1895, also wieder in den Jahren der Gründung von Rapid, kam es zu einem Generalstreik der Ziegelarbeiter und zu einer Art ersten Arbeitsvertrag, der lautete:
- 11-Stunden-Tag
- arbeitsfreier Sonntag
- arbeitsfreier Erster Mai
- Abschaffung des Prämiensystems
- Abschaffung des Trucksystems (Blechgeld)
Der Erste Mai 1895 war der erste arbeitsfreie Tag für die Ziegelarbeiter und sie marschierten von Inzersdorf mit Musikkapellen in die Biergärten des Böhmischen Praters. Aus dieser Zeit gibt es wohl eines der berühmtesten Fotos mit Victor Adler:
Das Sperrsechserl, Šesták
„Das Sperrsechserl“ ist der Titel einer Operette von Robert Stolz. Das berühmteste Lied daraus: „A klane Drahrerei“. Der Titel zeigt uns die Bedeutung dieses kleinen Geldstücks für die damalige Zeit. Jeder, der nach 22 Uhr nach Hause kam, musste beim Hausbesorger dieses Sperrsechserl bezahlen.
Es war ein lebenslanges Anliegen von Victor Adler, dass jeder Mieter einen Haustorschlüssel haben sollte und man sollte nicht glauben, woran das gescheitert ist. Dieses Recht, Geld einheben zu dürfen, gab dem Hausbesorger Macht und die regierende christlich-soziale Fraktion wollte sich durch die Beibehaltung des Sperrgeldes die Stimmen der Hausbesorger sichern.
Erst 1923, also nach dem Tod von Victor Adler wurde das Sperrgeld abgeschafft, doch kann ich mich erinnern, dass in meiner Kindheit die Hausbesorgerin immer noch mit einem Sperrgeld gerechnet hat, wenn man sich einmal verspätet hat.
6 Kreuzer waren ein kleines Geldstück und die ärmere Bevölkerung hat nur mit kleinen Geldstücken bezahlt, zum Beispiel auch die Favoritner. Viele waren Tschechen und daher nannte man Favoriten damals auch den Šesták-Bezirk.
Arbeiter-Fußball
So etwa war die Zeit, als in Wien die ersten Fußballvereine entstanden sind. Fußballvereine aus dem Arbeitermilieu standen unter misstrauischer Beobachtung der Polizei – wie uns Laurin Rosenberg beim Geburtstagsabend am 8.1.2019 erzählt hat. Das war mit ein Grund, warum man den 1897 gegründeten 1. Wiener Arbeiter Fußball Club im Jahr 1899 in S.C. Rapid umbenannt hat.